Kirstine Fratz ist Deutschlands bekannteste Zeitgeist-Expertin und Kulturwissenschaftlerin. Wenn sie von Zeitgeist spricht, meint sie keine launischen Trends, sondern die mächtige und kreative Kraft, die unsere Kultur vorantreibt.
Warst du schon immer vorwärtsgewandt?
Nein, das war ich ganz und gar nicht. Aber ich war gegenüber der Gegenwart immer sehr misstrauisch. Auch wenn man mir als Kind glauben machen wollte, wie die Dinge zu sein haben, merkte ich, dass das so nicht stimmt. Ich spürte früh eine Dissonanz gegenüber der Idee: «So wie es ist, ist es richtig. Und so soll es bleiben.» Wohl deshalb, weil sich keiner daran gehalten hat. Alles ist in Bewegung. Die Gegenwart bleibt nie so, wie sie ist. Mich hat also nicht die Zukunft interessiert, sondern die Frage, was die Gegenwart ständig in Bewegung hält.
Was hält sie in Bewegung?
Der Zeitgeist. Ich definiere ihn als ein temporäres Versprechen für ein gelingendes Leben. Wenn unsere Vorstellung vom richtigen Leben in Bewegung kommt, dann erscheinen plötzlich neue Fokuspunkte dafür. Und danach bauen wir unsere Gesellschaft um. Ein Beispiel: Es gab mal die Idee, dass es richtig ist, Kinder in der Erziehung zu züchtigen, damit aus ihnen vernünftige Menschen werden. Jetzt kommt das Faszinierende: Plötzlich kam man auf die Idee, dass man das Züchtigen abschafft und sie auf diese Weise vernünftige Mitglieder einer Gesellschaft werden. Wir haben das Eine Jahrhunderte lang geglaubt, unsere gesellschaftlichen Strukturen danach aufgebaut, und auf einmal sind wir vom Gegenteil überzeugt. Nämlich, dass Kinder sich ihrem Wesen nach entwickeln sollen. Das ist ein Sprung von «die Menschen sollen sich anpassen, damit es funktioniert» hin zu «sie sollen sich entfalten, damit es besser funktioniert.» Das Resultat davon liest man heute an Konzepten moderner Kindergärten oder in den aktuellen Entwicklungen in der Unternehmenskultur ab.
Wie geht Zeitgeistforschung? Wo findet man das Neue?
Ich halte immer Ausschau nach dem Riss in der Matrix. Das beginnt, wenn irgendetwas im Mensch drin sich fragt: «Warum fühle ich mich nicht so, wie ich mich fühlen soll? Warum bin ich trotz allem nicht glücklich, nicht erfüllt? Warum liege ich nachts wach und habe Sehnsucht?» Vielleicht weiss man noch nicht einmal wozu, vielleicht gibt es noch nicht einmal einen Begriff dafür. Das ist der Moment, in dem etwas in die Welt kommen möchte, die Zeitgeist-Dynamik ihren Weg in unsere Gesellschaft findet. Aus diesen Rissen wird irgendwann ein Panoramafenster und dann ist alles anders, als es einmal war. Man kriegt den Geist nicht mehr zurück in die Flasche. Mich interessiert, wie wir von dort aus weitermachen und neu überdenken, wie wir arbeiten, konsumieren oder unsere Kinder erziehen.
Was sind die Stärken von Zeitgeist?
Er macht nicht immer nur alles besser. Er ist kein Synonym für Fortschritt. Aber Zeitgeist erinnert uns immer wieder an das ganze Potenzial von Wirklichkeit. Wir haben innerhalb unseres kulturell gebauten Systems alles systemintelligent angelegt. Von Geldanlagen über Geschlechterrollen bis hin zur Arbeitsethik. Bis irgendetwas reinkommt und sagt: «Wisst ihr was? Vielleicht kann man auch anders leben? Vielleicht gibt es etwas, was wir lange nicht mehr integriert haben in unsere Lebendigkeit?» Zu erwarten, dass eine einzige gesellschaftliche Struktur für alle greift, und zwar für immer, ist im Prinzip absurd. Und produzierte in der Vergangenheit eine Menge Leid und Schmerz. Der Zeitgeist hat die vornehme Aufgabe, uns immer wieder aus System-Ecken rauszuholen und uns zu helfen, ein unbekanntes Stück von Wirklichkeit zu integrieren, damit wir neue Erfahrungen machen können. Damit das, was unten ist, nach oben kommt und umgekehrt. Damit die Karten neu gemischt werden.
Und was ist seine Schwäche?
Dass er keine Ruhe gibt. Das kann einem auf die Nerven gehen. Immer dann, wenn man sich gut eingerichtet hat, wird man von Neuem gefordert. Es ist anstrengend, sich ständig zu verändern. Und es ist anstrengend, die Sachen in Frage zu stellen, die doch eigentlich gut funktioniert haben.
Wie verhält sich Zukunft?
Selten linear. Unsere Gesellschaft biegt ständig mit der nächsten Sehnsucht ab. Und es ist schwer zu sagen, was die nächste Sehnsucht sein wird. Wir Menschen lesen das Kleingedruckte des Lebens nicht. Wir haben den Job, das Haus, den Traumurlaub, stellen unsere Ernährung um und machen regelmässig Sport, engagieren uns in der Gemeinschaft und haben das Kind, das wir uns gewünscht haben. Das Kleingedruckte dabei ist: Wir schlafen nicht mehr gut, sind gestresst, müde, uns fehlen Inspiration und Leichtigkeit. Und aus all dem entstehen Sehnsüchte. Wir können zum jetzigen Moment die künftige, neue Lust an der Erfahrung nicht vorhersehen. Es ist die Sehnsucht, die uns davon erzählt, was der Welt hinzugefügt werden möchte. Und nicht die Vernunft. Weil sich die Vernunft immer daran orientiert, wie es richtig sein sollte.
Wie sollen wir auf den Zeitgeist blicken?
Staunend! Das ist ganz wichtig. Darüber hinaus mache ich uns allen lieb, bei Zeitphänomenen nicht primär mit einem lauten «Ich finde …» eine Meinung zu äussern, sondern sich die Frage «Was hat das zu bedeuten?» zu stellen. Weil wir damit mehr verstehen statt zu verurteilen. Und das ist für mich ein Wert an sich. Wir haben ein grösseres Schöpfungspotenzial mit unserer Gegenwart, wenn wir mehr verstehen. Spielen wir das an einem Beispiel durch: Die Vorstellung von der Kernfamilie als Vater-Mutter-Kind war nicht schon immer da. Sie ist zu einer bestimmten Zeit in die Welt gekommen. Mann, Frau und Kind in einem Einfamilienhaus – das war einmal wilder Zeitgeist. Das war einmal eine Sehnsucht. Und jetzt sitzen wir da und kriegen diesen grossen Anspruch aller Parteien an die Lebensgestaltbarkeit mit Vater-Mutter-Kind nicht mehr hin. Da sind ganz viele Risse in der Matrix reingekommen. Es ist eine neue Entwicklung zu Clan-Strukturen zu beobachten. Und das ist nicht schlecht. Es ist erstmal einfach anders. Wenn man Kultur als einen ständigen Prozess begreift, wo wir immer wieder versuchen, neue Wirklichkeit hinzuzufügen, dann sieht man die Sache insgesamt gelassener.
Was lernen wir durch die Auseinandersetzung mit Zeitgeist?
Wir lernen Entwicklungsgrosszügigkeit. Das ist für mich die wichtigste Tugend in der Auseinandersetzung mit dem Wandel von Gegenwart. Die Grosszügigkeit, die man für sich selbst beansprucht, als perspektivische Weisheit auch auf die aktuelle Zeit anzuwenden. Man kann vor sich hin griesgrämen, in der Annahme, dass früher alles besser war. Was selten der Fall ist, weil wir oft vergessen, wo wir herkommen. Oder man kann denken, dass die Welt komplett verrückt geworden ist. Das entlarvt jedoch nur die Abweichung der Realität von der eigenen Vorstellung, wie die Welt sein sollte. Ist man entwicklungsgrosszügig, denkt man nicht mehr: «So muss es sein». Man fragt: «Was ist im Werden? Was möchte der Welt hinzugefügt werden?» Es geht auch um eine Neubewertung von Zeitgeist. Er ist, salopp gesagt, nicht der böse Teufel, der da kommt und einem die Werte klaut und dem man sich anpassen muss. Man ist vielmehr aufgefordert, mit dem heilsamen Potenzial von Zeitgeist Gesellschaft zu fördern. So können wir anders an Gemeinschaft arbeiten, indem wir aufmerksam darauf schauen, wo der Mensch und die Kultur hinstreben, damit sie weiter lebendig sind. Dieser Blick auf die Welt birgt deutlich mehr Gestaltungspotenzial und ich empfinde ihn als die viel lässigere und weisere Art, sich die Gegenwart anzuschauen.
Wie steht es um den Zeitgeist Spiritualität?
Es gibt eine kollektive Sehnsucht nach metaphysischer Erfahrung. Die Frage, die man sich stellen kann, ist, warum diese Sehnsucht die Menschen nicht in die Kirchen spült. Das «Du sollst und du musst» und «So und nicht anders» funktioniert nicht mehr. Da klingt der aktuelle Zeitgeist – das aktuelle Versprechen der persönlichen Entfaltung – nicht mit. Die Leute erwarten die metaphysische Erfüllung nicht hinter dem Kirchentor. Wenn man sich den Zeitgeist Spiritualität anschaut, ist der nicht weit vom Christentum entfernt, er findet nur ausserhalb der Institution statt. Und darüber müsste man sich Gedanken machen.
Muss Kirche innovativ sein?
Kommt drauf an, was man will. Kirchen kommen aus einer Tradition, in der die meisten Menschen ihnen angehört haben. Es ist eine etablierte Religionsgemeinschaft gewesen, die heute ihre flächendeckende Relevanz verloren hat. Jetzt ist die Frage, was sie will. Wenn sie die Relevanz zurückerlangen will, dann muss sie sich bewegen, wie sich alles um sie herum bewegt hat. Wenn sie den Anspruch auf flächendeckende Relevanz verlässt, dann kann sie es aussitzen. Die Frage nach der Innovation stellt sich nur, wenn man im grossen Stil resonanzfähig sein möchte.
Was wünschst du dir für die Zukunft?
Dass wir vergangene Zeitgeister, deren Zeit abgelaufen ist, schneller ablegen könnten. Wie zum Beispiel territorialdenkende Herrscher mit Machtansprüchen. Das ist so gestrig. Wir haben diesen Herrschertypus so viele Jahrhunderte durchgezogen, das ist überlebt.
Und ich wünsche mir, dass wir in Phasen des Zeitgeistübergangs, wenn das Neue noch nicht so richtig geworden ist, aber das Alte bereits bröckelt, nicht sofort zum «Zurück-zu»-Muster rennen. Dass wir den Gedanken überwinden, dass das Zurück die Lösung wäre. Dass wir die Angst aushalten, nicht zu wissen, wie es wird. Dass wir nochmals genauer hingucken und fragen: Wie können wir es anders machen?
Interview: Tamara Boppart
Kirstine Fratz berät Unternehmen und Institutionen wie Unilever, Gucci, Facebook, Audi und die katholische Kirche. Sie ist internationale Speakerin für Zeitgeist-Themen, Dozentin an Hochschulen, Aufsichtsratsmitglied bei der German Real Estate und TED Speakerin, Autorin von «Das Buch vom Zeitgeist – Und wie er uns vorantreibt» und publiziert regelmässig neue Zeitgeist-Perspektiven in unterschiedlichsten Medien von Tush, Deco Home bis zum Wallstreet Journal.
Tamara Boppart schreibt und referiert freischaffend und im Auftrag von Central Arts, einer Bewegung von Kreativen in der populären Kunst und in Kirchen (centralarts.net). Zudem ist sie Teil des Amen Magazin Redaktionsteams, wo dieser Artikel zuerst erschienen ist (amen-magazin.ch).
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